Wie laut müssen Eltern eigentlich noch werden, bevor die Politik Familien wirklich mitdenkt?
Soll ich wirklich mit diesem Thema anfangen? Gibt es nichts Motivierenderes?
Die wöchentlichen Themenvorschläge von Judith “Sympatexter” Peters in The Content Society sind ja nur Vorschläge und ich halte mich zugegebenermaßen eher selten daran. Auch diese Woche war mein erster Impuls dies nicht zu tun.
Denn der Vorschlag lautete “Schreibe einen Rant”, also einen Artikel über ein Thema, dass mich zur Zeit so richtig aufregt. Normalerweise gibt es dafür selten aktuelle Themen – ich rege mich meist mehr so grundsätzlich auf.
Über die Regenwaldabholzung oder den weltweit steigenden Fleischkonsum, über den Gender Pay Gap oder nicht ausreichende Kinderbetreuung, über Bildungsungerechtigkeit oder Alltagsrassismus. So Dauerthemen eben.
Aber dieses Mal war mir sofort klar, welches Thema es sein müsste. Denn ich rege mich gerade tatsächlich über ganz aktuelle Ereignisse auf.
Und trotzdem wollte ich darüber keinen Artikel schreiben. Denn ich hatte den Eindruck es ändert ja nichts.
Doch jetzt von vorne – was regt mich denn so auf?
“Die Politik” und ihre nicht vorhandenen Pläne
Wir sind seit fast 1,5 Jahren in einer Pandemie. Wir als Gesellschaft mussten und müssen zuvor Unvorstellbares leisten. Die meisten von uns hatten zuvor nicht all zu viele Gedanken an all das verschwendet, was mit so einer Pandemie zusammen hängt.
Wir (oder zumindest die meisten von uns) wussten nichts von 7-Tage-Inzidenzen, von Aerosolen, von PCR-Tests, von Unterschied zwischen OP-Masken und FFP2-Masken.
Den Begriff “Infektionsketten unterbrechen” benutzten wir nicht und er hätte wohl auch hauptsächlich bedeutet, dass wir uns die Hände gründlich waschen, höchstens in die Armbeuge niesen und bei möglichen Magen-Darm-Infekten besser zuhause bleiben.
Inzwischen haben wir so viel gelernt. Viele Fehler und Versäumnisse, die am Anfang der Pandemie gemacht wurden, würden wir heute so nicht mehr machen bzw. machen wir nicht mehr.
Doch wenn ich mir die aktuellen Entscheidungen und Ankündigungen anschaue und anhöre, dann frage ich mich, warum das Gelernte nicht so um- und eingesetzt wird, dass es Familien zugute kommt.
Entscheidungen zeigen Prioritäten
Warum können 14.000 Menschen in einem Stadion ein Fußballspiel schauen und dabei ganz offensichtlich die meisten Hygiene-Vorschriften in ihrer Begeisterung ignorieren? Gleichzeitig wird immer noch diskutiert, ob es wirklich erlaubt sein soll, dass Kinder, die zwei mal pro Woche einen verpflichtenden Test machen, in einem festen Klassenverband, bei 30°C im Schatten am Platz sitzend ihre Maske abnehmen dürfen?
Warum können wir Milliarden für die Rettung von Luftfahrtkonzernen ausgeben, aber für Luftfilter in Schulklassen wird, wenn überhaupt(!) nur zögerlich Geld ausgegeben?
Es gibt längst Studien, dass mit Luftfiltern das indirekte Infektionsgeschehen in Klassenzimmern nahezu vollständig unterdrückt werden kann. Das direkte könnte durch Plexiglas-Trennwände deutlich eingedämmt werden. Warum gibt es diese Filter nicht schon längst in allen Klassenzimmern?
Stattdessen wurden die Schulen einfach Mitte Dezember geschlossen und erst ein halbes Jahr später sind wir wieder bei einem relativ normalen Regelbetrieb?
Nahezu jedes andere europäische Land hat es geschafft, die Schulen die meiste Zeit geöffnet zu haben.
Das ist zum Einen für die Eltern und Familien wichtig, weil ihr Alltag natürlich darauf ausgelegt ist, dass Unterricht stattfindet und dadurch die Kinder betreut sind.
Zum Anderen ist es natürlich für die Kinder enorm wichtig. Ihre Entwicklung kann nur dann gut verlaufen, wenn Kontakte zu anderen Kindern gepflegt werden können. Grundschüler können das in der Regel fast gar nicht über digitale Kanäle und Teenager brauchen schon aus Gründen der Abgrenzung vom Elternhaus unbedingt die Möglichkeit ihre Freund:innen zu treffen.
Dennoch hat die Politik über Monate in Kauf genommen, dass dies nicht möglich ist. Gleichzeitig waren Fabriken, Büros und Supermärkte nahezu normal geöffnet. Dies war – selbst bei hohen Inzidenzen – ohne Testpflicht möglich. An den Schulen werden derzeit trotz einstelliger Inzidenzen alle Kinder getestet (was ich ja auch gut finde!).
Doch die Prioritäten, die sich da zeigen finde ich mehr als hinterfragenswert.
Pläne für den Herbst
Jetzt sind die Schulen endlich wieder geöffnet. Immer mehr Erwachsene sind geimpft, ein immer größer werdender Anteil sogar schon zweimal. Gerade wir Eltern könnten eigentlich langsam aufatmen (sofern das im ganz normalen Alltag mit all den ungewohnten Sonderregelungen eben möglich ist…).
Ja, könnten wir, wäre da nicht die Sorge, wie es im Herbst wird. Es gibt neue Varianten, von denen noch unklar ist, ob und wie die Impfungen wirken. Kinder können derzeit eh noch nicht geimpft werden, auch Jugendliche werden derzeit nur teilweise geimpft (wenn sie selbst zu einer Risikogruppe gehören).
Und was hat die Politik dafür vorgesehen?? Wir ahnen es schon. Immer noch keine Luftfilter, immer noch keine zusätzlichen Lehrkräfte oder zusätzlich angemietete Räume für kleinere Klassen.
Falls es Varianten geben, die Maßnahmen erfordern, müssen sich die Kinder halt darauf einstellen, wieder wechselweise zuhause bleiben.
Mami wird es schon richten??
Ja, so ließ es Jens Spahn letztes Wochenende verlauten.
Ungerecht auf so vielen Ebenen
Das ist auf so vielen Ebenen falsch. Deutschland ist eh schon ein Land, in dem der schulische Erfolg stark vom Elternhaus abhängt. Dieser Effekt wird mit jeder Woche Distanzunterricht potenziert.
Da könnte man ja schon fast zynisch werden und der politischen Elite unterstellen, dass sie damit eben dafür sorgen wollen, dass sie schön unter sich bleiben.
So weit will ich gar nicht gehen. Ich gehe immer noch davon aus, dass sie uns einfach nicht mitdenken. Bislang dachte ich, sie denke nicht an uns, weil wir zu leise sind.
Die meisten Eltern, die ich so kenne, für die diese Schulschließungen so furchtbar sind, habe schlicht keine Zeit, keine Energie, keine Kraft, dagegen laut zu werden. Das ist ja leider bei einigen Themen so.
Doch inzwischen weiß ich, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Inzwischen sind soo viele Eltern laut geworden. Es gibt unzählige Menschen, die ihr Stimme erheben, ihre Reichweite nutzen, um auf diese Missstände hinzuweisen.
Das kommt ganz offensichtlich auch an. Der Aufschrei letzte Woche hat es zumindest geschafft wahrgenommen zu werden. Es gab eine Antwort.
Hofft irgendwer, dass die Antwort irgendwie so klang “Oh, da ist uns ein Fehler unterlaufen. Wir wollen natürlich alles dafür tun, dass die Kinder und Jugendlichen nicht weiter eine überproportional hohe Last tragen müssen, obwohl sie selbst meist gar nicht schwer erkranken und all die Einschränkungen tatsächlich vor allem aus Solidarität mittragen.”?
Ja, der oder die wurde enttäuscht! Es wurde wieder und wieder betont, dass bei den derzeit niedrigen Inzidenzen ja kein Wechselunterricht nötig sei, dass aber Masken und oder Tests dennoch eine mögliche Maßnahme sein könnten.
Was bei steigenden Inzidenzen passiert, das wird dann schön ausgeklammert. Dafür scheint es auch nach 1,5 Jahren keine andere Idee als Wechselunterricht zu geben.
Da frage ich mich, wie laut müssen wir Eltern denn noch werden, bis wir nicht nur irgendwie wahrgenommen werden, sonder wirklich gehört. Bis Familien wirklich mitgedacht werden?
Lasst uns laut werden.
Ich weiß, dass die Demografie der Wahlberechtigten nicht unbedingt günstig für Familien mit jungen Kindern aussieht (über die Hälfte der Wahlberechtigten ist über 50). Doch ich hoffe ganz fest, dass sich auch Wahlberechtigte, die gar nicht selbst betroffen sind, solidarisch verhalten und deutlich machen, dass wir es uns als Gesellschaft nicht leisten können, die Kinder und Jugendlichen mit ihren Bedürfnissen zu ignorieren.
Diese Menschen sind die Zukunft dieses Landes, der Welt. Lassen wir es nicht zu, dass ihre Bedürfnisse ignoriert werden, nur weil sie noch nicht wählen dürfen oder Steuern zahlen müssen.
Trotz all der Enttäuschungen: Lasst uns nicht leise werden. Werdet immer und immer wieder laut. Bis sie uns hören.
Wirklich hören.
One Comment
Iris Weinmann
Du sprichst mir aus dem Hezen liebe Veronika. Es ist ein unding, wie mit uns Eltern und unseren Kindern umgegangen wird in dieser Situation und wie wir einfach vergessen werden. Danke für diesen tollen Beitrag. Und ja, wir müssen laut werden.