Gesellschaftliches,  Persönliches

Sexualisierte Übergriffe – was geht mich das an?

In den letzten Tagen bzw. schon Wochen wurden schwerwiegende Vorwürfe gegen den Frontmann einer berühmten Band laut. Es geht – ich muss fast sagen “schon wieder” um sexualisierte Gewalt, um Übergriffe gegen Frauen durch einen recht berühmten und daher “mächtigen” Mann. Wir könnten uns nun auf den Standpunkt stellen “Das war in der Musikbranche und dass die nun mal anders tickt als “die Wirtschaft” das wissen wir doch alle, oder?”, das hat mit dem beruflichen Umfeld der meisten Menschen nichts zu tun. Wir könnten was von Einzelfällen erzählen und uns in der trügerischen Sicherheit wiegen, dass “uns” das nicht passiert, dass wir “solche Menschen” nicht kennen. Doch das wäre falsch.

 

Ich kann dazu nicht schweigen oder präziser – ich WILL nicht schweigen. Denn die Berichte, die Art der Berichterstattung, die Reaktionen auf diese Berichterstattung, das alles macht etwas mit mir. Mehr als ich mir eingestehen wollte.

Warum schreiben ich – zugegeben ohne jegliche fachliche Expertise zu diesem Thema – über sexualisierte Übergriffe?

Warum nimmt es mich so mit, dass hier Vorwürfe gegen den Frontmann einer Band geäußert werden, mit der ich noch nie wirklich was anfangen konnte, einen Frontmann, der schon mit “Gedichten” gezeigt hat, dass ich auf seine Art von Kunst auch keinen gesteigerten Wert lege?

 

Was geht mich das an?

Ja, was geht mich das an – ich war noch nie auf einem solchen Konzert und wenn würde ich “da” doch eh nie hingehen…

Und was geht dich das an – du bist doch einer von den “Netten” – du würdest so etwas doch nie tun!

 

Warum es mich persönlich so beschäftigt, kann ich später noch erklären. Doch zunächst das meiner Meinung nach viel wichtigere: Ich finde es geht uns alle an.

Denn auch wenn es gerade die Musikbranche betrifft, so sind die Mechanismen, die das jetzt ermöglicht haben, gesamtgesellschaftliche. Es sind Mechanismen, die so an ganz unterschiedlichen Stellen unserer Gesellschaft ihr Gift verbreiten, auch in der “ganz normalen Wirtschaft”, auch in Büros, in Laboren, in Werkstätten. Da müssen wir alle hinschauen.

Hand die ein Stop signalisiert im Hintergrund verschwommen die Person, zu der die Hand gehört
Übergriffe kommen viel zu häufig und tatsächlich überall vor. Wir sind daher als ganze Gesellschaft gefordert, dies zu ändern

Wir können nicht einerseits immer und immer wieder entsetzt sein, wenn irgendwo ein Missbrauchsverdacht im Raum steht oder es dann immer wieder auch zu Verurteilungen kommt, und uns andererseits weigern mit den dahinterliegenden Themen zu beschäftigen.

Das Thema ist unheimlich komplex und ich habe überhaupt nicht den Anspruch es wirklich abzuhandeln. Ich will nur ein paar Aspekte herausheben:

So viele Mitwissende…

Nachdem die Vorwürfe bekannt wurden, kamen aus der Musikbranche die unterschiedlichsten Reaktionen. Nur eine fehlte. Und dieses Fehlen sollte uns am stutzigsten machen. Keine*r war überrascht. Niemand meinte “oh, das hätte ich ja nie gedacht!”. Viel zu oft wurde klar, dass ganz viele zumindest grob wussten, dass das etwas schief läuft.

Wie kann es sein, dass so viele Menschen nicht reagieren? Wollen sie es nicht wahrhaben? Gehen sie davon aus, dass es “eben so läuft” in der Musikbranche? Haben sie mehr Angst um ihren Job als Mitgefühl mit den Opfern? Behaupten sie einfach, dass das ja gar nicht im Bereich des Möglichen läge, und dass es in Relation gesehen werden müsse? Reden sie sich ein, dass die Opfer das ja bestimmt auch wollen? (Side note: Ich finde es echt schwer vorstellbar, dass jemand verdrängen kann, dass wirklich niemand oder mindestens so gut wie niemand betäubt und dann vergewaltigt werden will – und nur meine mathematische Korrektheit sorgt dafür, dass da nicht einfach “niemand” steht, ich kenne einfach nicht alle Menschen auf der Welt. Spätestens diese Frage ist also echt rhetorisch, die ersten war es aber definitiv nicht…)

Es sind nicht nur die großen, “krassen” Geschichten

Der vorliegende Fall mag ziemlich extrem sein. Doch es beginnt ja schon viel früher – wie oft bekommen wir seltsame Kommentare, Blicke, Verhaltensweisen mit, die, wenn wir genau hinsehen, nicht ok sind. Die übergriffig sind. Die haarscharf an der Grenze zu sein scheinen und irgendwie ist es nicht mal ganz klar auf welcher Seite der Grenze (Spoiler: wenn wir uns das fragen – meist auf der falschen Seite der Grenze!! Sozialisation lässt grüßen, s. unten).

Und wie oft sagen wir dann etwas? Gerade dann, wenn es uns persönlich gar nicht betrifft? Wann schweigen wir, weil wir nicht diejenigen sein wollen, die viel zu viel Wind um diese Sache machen, die keinen Spaß verstehen oder einfach empfindlich sind? Bestimmt ist das so auch nicht gemeint! Eigentlich ist das doch ein ganz Netter! Wann sagen wir nichts, weil wir doch nicht einfach jemand anderes beschuldigen können?

Und da kommen wir schon zum nächsten Punkt.

 

In dubio pro reo – die Unschuldsvermutung…

Die Unschuldsvermutung ist ein juristisches Konzept, das zu unserem Rechtssystem gehört. Es ist als Prinzip ein zentraler Bestandteil eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Es geht darum, dass in einem Strafverfahren, die Schuld zweifellos nachgewiesen werden muss. Wenn das nicht möglich ist, muss die angeklagte Person freigesprochen werden und gilt dann vor dem Gesetz als “unschuldig”. Ja, bis die Verurteilung einer Person rechtskräftig ist, gilt diese vor dem Gesetz als unschuldig.

[Nur so am Rande: Dennoch gibt es selbst in diesem juristischen Vorgang natürlich die Möglichkeit einer vorläufigen Festnahme oder gar einer Verhaftung (mit Haftbefehl) und auch zur Gefahrenabwehr sind Eingriffe ohne rechtskräftige Verurteilung möglich.]

Unschuldsvermutung im aktuellen Fall

In diesem Fall geht es darum, dass viele Opfer (schwere) vorwürfe erheben und diese mit Screenshots zum Teil belegen können. Allein diese Vorwürfe machen im juristischen Sinne natürlich noch keine “schuldige Person” (dazu benötigt es wie gesagt die rechtskräftige Verurteilung!]. Dennoch ist eines völlig offensichtlich: Kommt es zu einem Übergriff, vergeht ziemlich viel Zeit von dem eigentlichen Übergriff bis zur rechtskräftigen Verurteilung. Ab dem einen Zeitpunkt ist die Person wohl das, was wir als “moralisch schuldig” bezeichnen würden und erst ab der rechtskräftigen Verurteilung auch “juristisch schuldig”.

In der Zwischenzeit muss es also dennoch möglich sein über den Vorfall zu sprechen – selbst verständlich von den Opfern: Wie sonst sollte es zu “juristisch schuldig” überhaupt je kommen?? Und es muss auch möglich sein, als Presse darüber zu berichten. Diese ist tatsächlich dazu verpflichtet bis zur rechtskräftigen Verurteilung gewisse Mindeststandards einzuhalten, doch sie darf sehr wohl berichten. Und sie darf auch mutmaßlichen Opfern zuhören. Ja, meiner Meinung nach MUSS sie das sogar. Besonders, wenn das Machtgefälle so groß ist, wie im aktuellen Fall. Wenn schon allein die wirtschaftliche Macht, die Zugang zu juristischem Beistand ermöglich, so ungleich verteilt ist.

(Side Note – ich feiere die Aktion von Jasmina Kuhnke, Carolin Kebekus und Co, die innerhalb kürzester Zeit über eine halbe Million Euro gesammelt hat, um die Opfer genau dabei zu unterstützen!)

Weiblich gelesene Person mit einem französischen Schild
Die Welt wäre ein bessere Ort wenn wir Frauen, die von Übergriffen reden, mindestens so viel zuhören würden, wie Männern, die von Bratschen oder irgendeinem anderen Instrument sprechen. Derzeit hört die Gesellschaft offensichtlich lieber den Instrumenten spielenden oder singenden Männern zu als ihren (mutmaßlichen) Opfern.

Meistens sind wir als Gesellschaft recht gut darin den mutmaßlichen Tätern zuzuhören – zum Teil sogar weiterhin bei Konzerten…

Täter-Opfer-Umkehr

Doch was ist mit den Opfern?

In diesem Fall wird den 22 Opfern Lüge vorgeworfen, weil der mutmaßliche Täter die Vorwürfe abstreitet. Wenn dabei dann das Schweigen der Opfer gefordert wird und etwas von Unschuldsvermutung gerufen wird, dann wird es wohl mal Zeit den Begriff Täter-Opfer-Umkehr zu googlen und sich zu informieren!! Und ganz unbedingt aufhören etwas von Unschuldsvermutung zu reden. Denn gegen diese verstößt im aktuellen Fall niemand.

Doch die angesprochene Täter-Opfer-Umkehr hat noch einen anderen Effekt.

 

Was zeigt die gesellschaftliche Reaktion unseren Kindern?

Es gibt ernsthaft Menschen, die als erstes behaupten “aber das muss einem doch klar sein, wenn man da mit geht” oder “die Fans wollten doch uuuuuunbedingt zu ihrem großen Idol und haben das Risiko dafür eben in Kauf genommen”. Zum Teil sind da noch viel absurdere Aussagen im Raum. Nicht umsonst wurde in den Tagen direkt danach des öftern darauf hingewiesen, dass auch naive Fans nicht vergewaltigt werden dürfen. Schlimm, dass das Gefühl aufkommen konnte, dass diese Klarstellung nötig sein könnte. Doch ist diesen Menschen eigentlich klar, was sie damit anderen Menschen und leider besonders unseren Kindern vermitteln? Wenn es zu einem Übergriff kommt, wird zu allererst geschaut, was das Opfer alles “falsch” gemacht hast.

Wenn wir dann erleben, dass ganz viele Menschen direkt die mutmaßlichen Opfer angreifen und des Rufmordes beschuldigen (s.o.), dann wird gleich noch was anderes gelernt: Solange der Täter (oder die Täterin) nur mächtig (reich/berühmt/…) genug ist, hast du eigentlich sowieso verloren und solltest dich auf Angriffe bis zu Morddrohungen u.ä. einstellen.

Ich dachte, wir wären weiter.

Ich muss zugeben, ich hatte irgendwie die leise Hoffnung, dass wir weiter sind. Weiter als in meiner Kindheit. Weiter als damals, als ich mit solchen Reaktionen aufgewachsen bin. Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die bei sexualisierter Gewalt als erstes gefragt hat, was das Opfer an Kleidung getragen hat, ob es dem Täter nicht vielleicht (absichtlich oder auch unabsichtlich) Hoffnung auf mehr gemacht hat, ob es Alkohol oder gar andere Drogen genommen hat und ob es nicht vielleicht doch ein völlig unpassender und daher natürlich gefährlicher Aufenthaltsort für eine Frau oder ein Mädchen war (z.B. nachts allein auf dem Heimweg oder so…). Das macht was mit Mädchen und jungen Frauen. Das hat etwas mit mir gemacht. Viele der Menschen haben es vermutlich einfach nur gut gemeint und doch sind die Spuren, die diese sexistische, misogyne Weltbild hinterlässt, deutlich gefährlicher als die meisten merken.

Wenn es dann zu Übergriffen kommt, sind diese Fragen schon so internalisiert, dass es schwer wird, die Übergriffe laut als solche zu benennen.

Warum fällt uns das so schwer?

Ich würde immer sagen, dass ich das Glück hatte, in meinem Leben bisher keine sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Doch auch ich war schon Opfer von sexualisierten Übergriffen. Und all die internalisierten Fragen, die sich mir sofort stellten, hielten mich sehr effektiv davon ab, diese öffentlich zu machen. Es ging sogar soweit, dass ich mich jahrzehntelang immer wieder selbst gefragt habe, ob ich nicht einfach zu empfindlich war und ob ich es nicht durch mein Verhalten “provoziert” habe. Schließlich hatte ich bestimmt schon ein Bier oder so getrunken wie auf Univeranstaltungen nicht unüblich und ja, natürlich war auch das eigentlich ein Netter und wahrscheinlich ging das T-Shirt nicht 100% zuverlässig über den Hosenbund und so schlimm war es ja eigentlich bestimmt auch gar nicht, es geht ja noch viel schlimmer.
(Spoiler: Es hat so 10-15 Jahre gedauert bis es mir wieder egaler wurde, ob beispielsweise das T-Shirt absolut zuverlässig über den Hosenrand geht oder nicht. Ungebetene Hände in oder an meinen Haaren lassen mich heute noch erstarren.)

 

Schild mit französischer Schrift
Wenn es kein wirkliches JA ist, ist es ein Nein. Das wissen wir. Doch es wirklich fühlen, leben, ist u. U. etwas anderes. Und das kann auf jeder der beiden Seiten der Fall sein.

Zuhören nach Grenzüberschreitungen hilft

Ich betone immer und immer wieder dass nur “Ja” wirklich “Ja” bedeutet. Dass wenn sich ein Mensch nicht traut nach Consent zu fragen, er einfach davon ausgehen muss, dass die andere Person sich vielleicht auch nicht trauen würde Nicht-Consent auszudrücken. Ich kann das bei anderen und auch bei allgemeinen Debatten i.A. wirklich gut erkennen, begreifen und benennen. Doch bei meinem eigenen Erlebnis hat es deutlich über 15 Jahre und den Blick von außen gebraucht, um wirklich zu fühlen, dass das natürlich nicht ok war (und ich hab damals sogar was gesagt). Auch wenn es nicht strafrechtlich relevant war, war es ein  Übergriff, der so nicht hätte passieren dürfen. An sich “wusste” ich das die ganze Zeit. Doch erst als ich endlich mal davon erzählt habe und mein Gegenüber entsprechend angeekelt reagiert hat, wurde mir vollends so richtig klar, was da passiert ist.

Schwarze Silhouette einer Person mit erhobener Faust vor einem gelb-orange gefärbten Himmel
“Wir haben ne Stimme, wir müssen nicht schweigen!” – die Worte, die Celina Bostic im Bezug auf Menschen, die von Rassismus betroffen sind, singt, sind auch hier passend. Lasst uns laut werden – alle gemeinsam!

Unsere Verantwortung vor allem für die nächste Generation

Warum bürden wir das der nächsten Generation schon wieder auf? Um es ganz deutlich zu sagen: Es kotzt mich an, dass es immer noch normal ist, Opfern “Rufmord” vorzuwerfen und gleichzeitig was von “Unschuldsvermutung” zu erzählen. Dass es immer noch x Angebote für Mädchen gibt, bei denen sie Selbstbehauptung, Selbstverteidigung und co lernen, aber fast keine Angebote, in denen Mädchen und Jungen über das Wahren von persönlichen Grenzen, über Consent, über das Sicherstellen von Einvernehmlichkeit gibt. Was ich da echt bezeichnend finde: Ich habe als Mutter schon ziemlich viele Mails zu solchen “Selbstbehauptungs-Angeboten” bekommen – meist speziell für Mädchen. Doch ich habe noch KEINE EINZIGE Mail zu einem Angebot bekommen, in dem das Verhalten von Jungs beeinflusst werden soll. Besonders bemerkenswert ist das wohl vor dem Hintergrund, dass alle meine Kinder sich als Jungen identifizieren. Also gehe ich davon aus, dass wir “Jungs-Angebote” mitbekommen hätten.

Ich will, dass sich das alles ändert. Ich will, dass WIR das ändern. Du und ich und alle da draußen. Oder zumindest so viele, dass der Rest sich benehmen muss.

Lasst uns die Welt verändern

Lasst uns bitte endlich aufhören, die Gründe für sexualisierte Gewalt bei den Opfern zu suchen!

Lasst uns aufhören, die Verantwortung dafür, ob es zu Übergriffen kommt, auf die Schultern der potentiellen Opfer zu legen!

Lasst uns aufhören, blöde Sprüche und “seltsame” Vorfälle zu “ignorieren”, nur um “kein Fass aufzumachen”!

 

Lasst uns anfangen, mit all unseren Kindern darüber zu sprechen, wo übergriffiges Verhalten beginnt und wie im Umgang miteinander unsere jeweiligen Grenzen achten können!

Lasst uns anfangen, Opfern zuzuhören und laut zu werden, wenn wir als “unbeteiligte” Dritte übergriffiges Verhalten mitbekommen!

Lasst uns die Welt zu einem Ort machen, an dem all unsere Kinder und wir selbst sicher leben können!

 

Womit willst du anfangen?

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