Viele von uns haben gelernt, dass Sichtbarkeit eher gefährlich ist. Und doch ist es wichtig uns zu zeigen. Zu sehen: weiblich gelesene Person betrachtet sich im Spiegel, Blick wirkt kritisch.
Gesellschaftliches,  Persönliches

Hab keine Angst davor dich selbst zu zeigen – Sichtbarkeit im Kleinen und im Großen

Neulich habe ich mich gefragt, warum es mir oft so schwer fällt mich selbst wirklich zu zeigen. Eigentlich ging es bei der Unterhaltung um die Beziehung zu den eigenen Kindern.

Es ging um Konflikte mit ihnen und warum wir manchmal davor zurück schrecken, uns wirklich sichtbar für unsere Kinder zu machen.

Im Laufe des Gespräches wurde mir klar, warum Sichtbarkeit für so viele von uns ein Thema ist.

Ja, ich glaube Sichtbarkeit ist nicht umsonst so ein gehyptes Thema.

Bei vielen von uns löst die Vorstellung, dass andere uns wirklich sehen könnten, fast schon Angst aus. Woran liegt das und warum dürfen wir das ändern?

Wir lernen früh, dass es sicherer ist, sich nicht wirklich zu zeigen

So viele von uns haben irgendwann in ihrem Leben “gelernt”, dass es gefährlich ist, sich zu zeigen, sich wirklich zu zeigen.

Schon in der Kindheit erleben wir immer wieder Situationen, die den Schluss nahelegen, dass es besser ist, sich nicht wirklich zu zeigen. (Bild von Bekah Russom) Zu sehen ist ein Kind in rotem Kleid, das sich gegen eine Glasscheibe lehnt und darin sein Spiegelbild betrachtet.
Schon in der Kindheit erleben wir immer wieder Situationen, die den Schluss nahelegen, dass es besser ist, sich nicht wirklich zu zeigen. (Bild von Bekah Russom)

Das kann schon in der Kindheit passieren. Es vergeht kein einziger Tag, an dem nicht irgendwo ein Kind ausgelacht wird für eine Idee, die es hatte, eine Frage, die es stellte.

An dem nicht irgendein Kind beschämt (geschimpft) wird, weil es für sich und seine Bedürfnisse einsteht.

Oder es wird abgelehnt, weil es nicht den Vorstellungen der Eltern, der Lehrkräfte oder der anderen Kinder entspricht.

Ganz ehrlich – ich könnte die Liste noch SEHR lange weiterführen und ich bin mir sicher, dass alle von euch solche Situationen kennen – aus eigener Erfahrung und/oder aus der Beobachtung.

Viel zu viele Kinder wachsen also damit auf, dass sie lernen, dass sie sich besser nicht ganz so zeigen, wie sie sind, dass eine Fassade oft die sicherere Wahl ist.

Auch später gibt es unzählige solcher Lerngelegenheiten, in denen uns vermittelt wird, dass es sicherer ist, sich nicht zu zeigen.

Auch als Erwachsene scheint es fast normal zu sein uns nicht wirklich zu zeigen

Wer von euch hat schon mal den Rat gelesen oder sogar persönlich bekommen, die Kinder im Lebenslauf besser nicht zu erwähnen? Oder von sich aus beschlossen, die Kinder im Job eher nicht so prominent zu thematisieren? (Das war und ist auch einer meiner Gründe für diesen Blog.)

Eine andere Gelegenheit, bei der mir das über die Jahre immer wieder aufgefallen ist, ist das Thema Kinderschlaf (nur eines von vielen Beispielen). Meist klang es bei den Erzählungen der anderen Eltern so, als ob die anderen Kleinkinder alle schon längst im eigenen Bett, im eigenen Zimmer die ganze Nacht durchschlafen würden.

Irgendwann traute ich mich zu sagen, dass das bei uns nicht so sei, dass unser Kind bzw. später unsere Kinder bei uns im Bett schliefen. Mir sei mein Schlaf echt wichtig und die Kinder würden nachts doch oft wach. Da wolle ich nicht in ein anderes Zimmer laufen und die Kinder seien nachts viel zu verpeilt, um allein zu uns zu laufen.

Wir sehen immer nur Bruchstücke der anderen, selbst bei direkten Begegnungen. Lasst uns mutiger werden in dem, was wir von uns zeigen. (Bild von Alex Motoc). [Zu sehen ist eine Hand, die eine Spiegelscherbe hält, in der ein Auge zu sehen ist.]
Wir sehen immer nur Bruchstücke der anderen, selbst bei direkten Begegnungen. Lasst uns mutiger werden in dem, was wir von uns zeigen. (Bild von Alex Motoc)

Und plötzlich fingen auch andere Eltern an zu erzählen, dass ihre Kinder nachts natürlich auch oft aufwachten und dann im Elternbett weiter schlafen oder dass ein Elternteil im Kinderzimmer schläft oder sie eine Besuchermatratze im Elternschlafzimmer haben, die morgens fast immer belegt ist, oder oder oder….

Die meisten Eltern gingen davor nur einfach davon aus, dass es “sicherer” ist, nicht die ganze Wahrheit zu erzählen.

Was uns schon im eigenen Umfeld manchmal schwer fällt, wird in der Netzöffentlichkeit zum wahren Kraftakt

Spätestens beim Thema Social Media wird es so richtig deutlich. Es gibt unzählige Beispiele, bei denen ein Shitstorm seinen Auslöser darin hatte, dass sich Menschen selbst zeigten.

Sie traten für ihre Überzeugungen ein.

Manchmal zeigten sie auch einfach nur ihren Körper wie er ist.

Oder sie machten ihre Zweifel an was auch immer öffentlich.

Das geht auch an uns Mitleser:innen nicht spurlos vorbei. Wir sehen immer wieder, dass es ein Risiko ist, Persönliches zu teilen – egal, ob das unsere Meinung, unsere Entscheidungen oder einfach nur Bilder von uns sind.

Hass im Netz hält vor allem Frauen oft davon ab sich im Netz zu zeigen. Gemeinsam können wir das ändern. (Bild von Ilayza Macayan) Es ist der RÜcken einer Person zu sehen. Dort ist ein Zettel mit "Kick me!" und verschiedenen Zuschreibungen wie "fat" "ugly" "thin" zu lesen
Hass im Netz hält vor allem Frauen oft davon ab sich im Netz zu zeigen. Gemeinsam können wir das ändern. (Bild von Ilayza Macayan)

Immer wieder zeigen Studien, dass überproportional oft weiblich gelesene Personen Ziel solcher Attacken werden. In der Folge trauen sich immer weniger davon, sich öffentlich zu zeigen.

Das Bild in den (sozialen) Medien wird immer weniger divers und die Angriffe fokussieren sich noch mehr auf die wenigen, die sich nicht abschrecken lassen.

Wir sehen daher bei diesen noch mehr solcher ungerechtfertigter Hasstiraden.

Kurz: Die Chance ist sehr hoch, dass du irgendwann gelernt hast, dass du dich besser nicht wirklich zeigst.

Sichtbarkeit als wichtige Chance

Doch wenn wir wollen, dass die Gesellschaft in ihrer Diversität repräsentiert wird, und wenn wir echte, tiefe Beziehungen führen wollen, dann müssen wir diese Angst sowohl im Großen als auch im Kleinen überwinden. Dann dürfen wir mutig einen Schritt durch diese Angst hindurch machen. Immer wieder.

Erst wenn wir uns wirklich zeigen, haben wir die Chance um unserer selbst geliebt zu werden oder eben eingestellt oder gebucht zu werden. Wenn wir das alle auch öffentlich machen, werden auch in der Gesellschaft ganz unterschiedliche Menschen wahrgenommen und an immer mehr Stellen mitgedacht.

Wie oft verstellen wir uns, um von anderen akzeptiert zu werden. Doch das dahinter liegende Bedürfnis erfüllen wir uns damit nicht. Zugehörigkeit fühlt sich nur dann wirklich als solche an, wenn wir selbst und nicht nur ein falsches Bild von uns akzeptiert wird.

Was bringt es mir, wenn ihr meine Artikel lest, weil ihr der Meinung seid, ich wäre jederzeit top durchorganisiert und hier könnte jederzeit “Schöner Wohnen” zur Homestory vorbei kommen?

Wenn euch das wirklich wichtig wäre, dann wäre es eh besser ihr wisst das frühzeitig. Also: meine Mutter hat (bei guter Laune) schon vor 30 Jahren beim Anblick meines Zimmers nur “Oh, das Genie beherrscht das Chaos?!” gesagt. Schöner Wohnen wird hier auch heute noch ganz sicher nicht vorbei kommen.

Judith “Sympatexter” Peters erinnert mich immer wieder, dass ich bei jedem persönlichen Artikel selbst entscheide. Was ist für mich “nur” persönlich, was teile ich mit anderen. Und was ist für mich privat und wird daher nicht geteilt.

Da dürfen wir auch auf uns selbst und unsere Grenzen achten. Letztlich kann und wird diese Entscheidung bei dir oft ganz anderes aussehen als bei mir.

Doch ich wünsche mir, dass sie bei uns allen weniger von Angst bestimmt wird. Wir sind als Menschen durch und durch soziale Wesen.

Wir brauchen Beziehungen.

Dass wir die echten, tiefen Beziehungen im Alltag, im direkten Umfeld brauchen, das ist jedem klar. Das ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen.

Doch auch in der (Netz-)Öffentlichkeit geht es letztlich um “Beziehungen”. Diese eher indirekten Beziehungen prägen unsere Gesellschaft immer mehr. Wenn Menschen wie du und Menschen wie ich in dieser Öffentlichkeit durch unsere Sichtbarkeit eine Art Beziehungsangebot machen, dann können andere Menschen das annehmen.

Auch wenn wir uns nicht persönlich kennen, begleitet die andere Person fortan ein kleiner Bildausschnitt aus deinem oder meinem Leben. Wir können fortan bei Entscheidungen mitgedacht werden.

Ich will, dass die Gesellschaft als Ganzes inklusiver wird. Bei Entscheidungen sollen ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten mitgedacht werden. Am liebsten sollen ganz unterschiedliche Menschen diese wichtigen Entscheidungen einfach auch gemeinsam treffen.

Lasst uns alle mutiger werden!

Um diesem Wunschbild näher zu kommen, lege ich meine Angst vor der Sichtbarkeit ab. Ich zeige mich immer öfter, wie ich wirklich bin, was mir wirklich wichtig ist. Ich erlebe, dass Menschen genau das gut finden. Dass Menschen mir genau deshalb zuhören.

Ja, immer mal wieder kommt diese Grundangst hoch und trotzdem will ich den einen Schritt weiter gehen. Den Schritt, der aus der Angst Mut macht.

Und ich will dich ermutigen, das auch zu tun – hab keine Angst, dich zu zeigen! Auf der anderen Seite der Angst warten echte Beziehungen und eine inklusive Gesellschaft. Ich bin der Meinung, das lohnt sich.

Dieser Artikel ist der fünfte Teil der #crazyblogwoche mit Susi und Aline, bei der wir alle drei in sechs Tagen sechs Artikel schreiben zu einem jeweils gelosten Stichwort. Das Stichwort von heute lautet “Keine Angst vor…”.

Susi: Keine Angst vor englischen Häkelanleitungen

Aline: Keine Angst vor…großen Träumen

 

Teil 1 der Woche (gelostes Stichwort Herzensangelegenheit) findest du hier:

Warum ich Selbstfürsorge endlich wichtiger nehmen will

Teil 2 der Woche (gelostes Stichwort Jahreszeit) findest du hier:

Es ist nur eine Phase – das gilt auch für Projekte und Teams

Teil 3 der Woche (gelostes Stichwort Entwicklung) findest du hier:

Warum meine Teams meinen Kindern dankbar sein können – meine persönliche Entwicklung durchs Muttersein

Teil 4 der Woche (gelostes Stichwort Lebenslauf) findest du hier:

Ein Hoch auf individuelle Lebensläufe und unterschiedliche Lebensmodelle!

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